Unter Unfallopfern

Unter Unfallopfern

Vom Dezember 2020 an habe ich fünf Monate (Zeiträume verändert) in der Industrie gearbeitet. Das hier ist eine fiktivierte Geschichte, die meinen Erlebnissen entspricht. Die Personen und Firmen sind jedoch frei erfunden. (Ersatzfoto).

Ich wollte wissen, wie es Arbeitern geht, die keine Ausbildung haben. Die Schicksalsschläge, wie eine plötzliche Kündigung hinter sich haben oder die aufgrund von Arbeitslosigkeit in der Heimat nach Deutschland migriert sind. Wer beispielsweise aus diesen Gründen einen befristeten Arbeitsvertrag hat, fühlt sich im Schnitt weniger als Teil der Gesellschaft, als Selbstständige oder unbefristet Beschäftigte. Ich finde: Der Einblick in prekäre Jobs aus der Ego-Perspektive fehlt vielen Entscheidern in der Politik. Die Hürden, um sich ein Bild machen zu können, sind vielfältig: Unternehmen haben ein Persönlichkeitsrecht auf "freie Entfaltung", das mit dem öffentlichen Interesse abgewogen werden muss. Aber mehr öffentliches Interesse würde den Anliegen der Arbeiter:innen am unteren Lohnniveau und in temporären Beschäftigungen gut tun. Ich bin skeptisch, ob sich die subjektiven Arbeitsbedingungen in physischer und psychischer Hinsicht für die Arbeiter:innen in den letzten Jahren signifikant verbessert haben.

Meine Arbeit starte ich in einer Zeitarbeitsfirma mit ordentlicher Größe und recht wildem Ruf. Zeitarbeitsfirmen vermitteln Arbeitskräfte in Kundenbetriebe. In Deutschland tuen das über 10.000 solcher Betriebe und die Anzahl der Beschäftigten in der Zeitarbeit steigt. Dazu nötig ist eine spezielle Genehmigung - die Arbeitnehmerüberlassung. Damit lassen sich Arbeiter zu unterschiedlichen Kunden weitervermitteln, eine Provision (meist gekoppelt an den Stundenlohn) geht an die Zeitarbeitsfirma. Sie macht Umsatz mit fremder Arbeit, denn damit lässt sich Geld verdienen. Offiziell geschieht das, um Spitzen in der Produktion auszugleichen. Der rennomierte Personaldienstleister Randstad aus Eschborn bewirbt sein Angebot darüber hinaus auch als Lösung bei "zusätzlichem Bedarf an Personal und Know-how (..)"  und "Personalengpässen aufgrund von Krankheit, Mutterschutz (...)". Das sind in der Wirtschaft aber auch Gründe für Neuanstellungen in Unternehmen.

Während meiner Geschichte bin ich nicht immer überzeugt, dass es um die schnelle Verfügbarkeit einer Arbeitskraft bei Produktionsspitzen oder um eine Brücke zur unbefristeten Beschäftigung geht. Hinter der Zusammenarbeit mit Zeitarbeitsfirmen scheint bei manchen Firmen eine fest verankerte Ressourcenstrategie zu stecken.

Mein Vorstellungsgespräch geht schnell. Ein wichtiger Pluspunkt für die Arbeitnehmer, die meist kurzfristig nach einem Job suchen. Aber: In normalen Arbeitsverhältnissen als Helfer:innen ist der Employment-Prozess ebenfalls meist schlank. In meiner Zeitarbeitsfirma gibt es zusätzlich zum Arbeitsvertrag viel Papierkram und keine Zeit für eine seriöse Einarbeitung oder Arbeitssicherheit, dafür nette Worte.

Ich habe beträchtliche Zeit meines Joblebens als einfacher Arbeiter verbracht und vor Jahren sogar in einer Zeitarbeitsfirma gearbeitet. Die Arbeit war hart, aber fair. Alles nicht so schlimm, denke ich.

"Die Namen der Zeitarbeitsfirmen kennt niemand, den ausführenden Dienstleister ebenso nicht, die Produkte der Mutterfirma kennt fast die ganze Welt."

Meine ersten Monate werde ich zu einem internationalen Lebensmittelkonzern geschickt. Es ist einer der Big-Player, mein Kunde ist allerdings laut des Auskunftsportals Bundesanzeiger ein kleiner Fisch, der im Auftrag des Unternehmens agiert. Am Anfang des Tages trage ich mich in eine Mappe ein, in der ich meine Leiharbeitsfirma suchen muss - das ist gar nicht so leicht. Laut dieser Mappe arbeitet man hier mit einer zweistelligen Zahl an Zeitarbeitsfirmen zusammen. Die Namen der Zeitarbeitsfirmen kennt niemand, den ausführenden Dienstleister ebenso nicht, die Produkte der Mutterfirma kennt fast die ganze Welt.

Zu Beginn mache ich eine kurze Sicherheitsschulung. Ich bin nicht der einzige Newbie. Ein Mann und eine Frau aus Bulgarien haben gemeinsam mit mir ihren ersten Tag. Zuvor arbeiteten sie als Lagerhelfer bei Amazon. Dort gilt 'Rette sich wer kann', entnehme ich zumindest ihren Schilderungen. Aber auch hier sieht es nicht gerade rosig aus: Bei der Arbeit habe ich mit offenem Feuer zu tun - damit wird Plastik angesengt. Die Halle stinkt nach Weichmachern. Wenn es einen Luftabzug gibt, merkt man davon zumindest nichts. Es ist laut. Ohne Ohrstöpsel unerträglich laut. Den Tag über bestücken wir im Akkord Pappkartons. Die schweren Kartons mit den Produkten liegen auf Bodenhöhe, jeder Griff ist eine unnatürliche Bückbewegung. Ich schweife in Gedanken: Die Zutaten der Produkte stammen aus Indonesien, der Waldverlust ist zuletzt wieder angestiegen. Ende? Nicht in Sicht. Nach ein paar Stunden, meine erste Pause. Ein Freund hat mir mal gesagt, wenn du ganz unten bist, kostet sogar der Mitarbeiterkaffee Geld. Wir sind ganz unten.

"Es sind Jobs, die keiner machen will."

Ich arbeite jetzt einige Monate in der Fabrik. Das Gehalt bekomme ich immer um die Monatsmitte, eine weit verbreitete Praxis in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Wenn der Gesetzgeber hier nicht schnell einen Riegel vorschiebt, wird die Auszahlung des Gehalts vermutlich immer später erfolgen. Die verspätete Auszahlung hat lediglich Vorteile für die Firmen. Den Interessen der Arbeitnehmer, die pünktlich Mietzahlungen und Rechnungen begleichen müssen, entspricht sie nicht.

Zurück in der Fabrik. Einmal stinkt es nach Propangas: Die Frühschicht hat eine Gasflasche aufgelassen. Ich drehe sie sorgfältig zu. Irgendwann ist Weihnachten. Vom Lebensmittelkonzern gibt es eine Packung mit Kinderspielzeug, Mikrowellengerichten und Hundefutter. Wir stehen in der Pause vor der Halle und ich merke, dass wir alle hier ganz schön fertig aussehen. Zu wenig Tageslicht, dafür unnatürliche Körperbewegungen, Lastentragen, Lärm, Kunststoffdämpfe, Rückenschmerzen. Die Belegschaft besteht fast ausschließlich aus Migranten. An anderen Orten wäre die Quote ein Erfolg. Hier wird mir langsam klar: Es sind Jobs, die keiner machen will. Ein russischer Mitarbeiter fragt eine Frau aus Süditalien: „Kommt dein Sohn über Weihnachten vorbei?“ Sie schweigt. „Hat er dich wenigstens angerufen?“ Wieder Schweigen. Wir machen Feierabend. Mit müden Augen trottet die Nachtschicht an uns vorbei.

Es folgen weitere Einsätze. In einer Firma sind die Maschinen in organischen Farbtönen gestrichen. Das braun und grün beruhigt meinen Kopf. Es tut gut, mal etwas anderes zu sehen, als Grauzone. Die ersten zwanzig Minuten werden leider nicht bezahlt. Berichte über solche 'Arbeitszeitgeschenke' reihen sich an Erzählungen der Arbeiter:innen ein. Sie gleichen sich.

Zwischen den Wechseln liegen manchmal Monate, oder auch ein paar Tage. Ich stecke in einer Möbelfabrik. Ein fluchender Chef lässt mich für acht Sicherheitsunterweisungen unterschreiben. Statt der Einweisungen, für die ich unterschrieben habe, bekomme ich die Kurzform: Einen Spaziergang zu den Klos. Zeitarbeit heißt: Jede Minute muss sich lohnen - für den Kunden. Für Einarbeitung ist hier kein Platz. Wir schießen Stahlnägel mit Druckluft in riesige Schrankwände. Einer der Stahlnägel landet in einer Hand. Ein Mitarbeiter verarztet sich selbst. Laut Erzählungen der Kollegen zieht er ihn sich nach dem Unfall selbst aus der Hand. Bei der Druckluftnagelei können die massiven Stahlnägel in andere Richtungen abrutschen, wenn zu nah an einem Astloch vorbei geschossen wird. An den Pistolen steht "Lebensgefahr. Bedienungsanleitung lesen." Ich bin mir sicher: Hier hat niemand der Arbeiter:innen die Bedienungsanleitung gelesen.

In einer Pause werde ich gefragt, wieso ich hier arbeiten würde. Ich wäre doch jung, würde fließend deutsch sprechen. Mir fällt auf: Das Experiment ist keins mehr. Spätestens wenn mich in den frühen Morgenstunden Kollegen fragen, wieso ich in meinem Alter so einen Job machen würde, empfinde auch ich  Perspektivlosigkeit. Warum sie es machen? "Man muss ja froh sein, wenn man überhaupt etwas kriegt, in meinem Alter."

In der nächsten Woche der nächste Arbeitsunfall. Wieder Stahlnagel, wieder eine Fleischwunde, wieder kein Arztbesuch. Am nächsten Morgen kommt der Mitarbeiter, der den Unfall hatte (ein junger Ägypter) zur Arbeit, klagt über Schmerzen, die Wunde hätte sich entzündet. Wir reden auf ihn ein, er möge zum Arzt gehen. Wie es ihm nach dem Arztbesuch geht, erfahre ich nicht. Ich werde abgeordert. Die neuen Einsätze werden möglichst kurzfristig mitgeteilt, vermutlich, damit meine Arbeitsmotivation nicht gegen Ende des Einsatzes abfällt. Ich bin verärgert, dass ich mich von meinen Kollegen nicht verabschieden kann. Nun wechsele ich in die Metallindustrie. Hier hebe ich Rohre und Stahlteile. Oft sind sie größer als mein Körper. Ich stecke in der Nachtschicht (3-Schichtbetrieb) und mein Kopf hat sich kaum an die Umstellung gewöhnt. Er kennt zu dieser Uhrzeit sonst nur Schlaf, die vielen Menschen und lauten Maschinen sorgen für riesigen Stress.

„Wenn du keine Lust auf den Job hast, musst du das nur sagen, dann steht hier morgen ein anderer.“

3 Uhr Nachts. Ich soll einen Haufen aus fertigen Teilen mit dem Stapler verladen, brauche fünf Minuten. Die Arbeit ist wieder im Dauerakkord, die Decke voll mit Überwachungskameras. Wenn ich zu langsam rangiere oder zu langsam lackiere, oder die Stahlteile zu langsam stemme, werde ich ermahnt. Der Psychoterror daran? Zwei Minuten zu lang am Hochregal rangiert: „Wenn du keine Lust auf den Job hast, musst du das nur sagen, dann steht hier morgen ein anderer.“ Fünf Minuten zu lang: „Es gab schon Leute, die sind hier auf Klo gegangen und nicht wieder gekommen, wäre auch ne Lösung für dich.“ Ich stehe jetzt unter permanenter Beobachtung, renne, hebe, lackiere und atme den Dreck der Farbe ein. Die Computer, Möbel und Maschinen in der Halle sind längst mit einer Farbschicht überzogen. Sieht so irgendwann meine Lunge aus? Ich strenge mich an, will herausfinden, ob es möglich ist, zu bleiben. Für mich ist es nicht möglich. Am zweiten Tag werde ich vom Kunden nach Hause geschickt. Ich war im Schneegestöber bei etwa zehn Grad Minustemperaturen einige Minuten zu spät erschienen.

Danach konfrontiere ich die Zeitarbeitsfirma mit meinen Protokollen über die Sicherheit, die Arbeitsbelastungen und die fehlende Hygiene. Man sagt mir, dass sich bisher kaum einer der Angestellten beschwert hätte. Kein Wunder, denke ich, ein gewisser Fatalismus hat sich in allen Köpfen breit gemacht, die die Hallen füllen. Hier zu arbeiten ist eine Galeerenstrafe in der Lite-Version. Schlimmer geht es immer, deswegen herrschen falsche Schuldgefühle, die Produktionshelfer:innen haben nämlich oft keine Ausbildung oder trafen in ihren Heimatländern auf Arbeitslosigkeit.

Und so erklärt sich auch ein Aspekt der geringen politischen Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: Wer sechs Tage pro Woche unter harten Bedingungen arbeitet, an fünf davon elf Stunden bei oder auf dem Weg zur Arbeit verbringt, verändert eher nicht am siebten noch die Welt.

(Wenn du Zeitarbeiter bist, hast du Anspruch auf Organisation in einer Gewerkschaft. In den meisten Fällen ist die IG-Metall für dich zuständig.)