Der Untote der Linken

Der Untote der Linken

Alle scheinen sich verschworen zu haben, um Karl Marx Böses zu wollen. Die Liberalen, die Behörden, die internationale Rechte - mitunter sogar die Medien: "Marx ist tot, nicht nur als Mensch, sondern auch ideologisch", provoziert Michael Krons, Phoenix-Moderator, in einem Sendungsausschnitt den Linken-Politiker Gregor Gysi. Die Linkspartei hat ihn mitten im Wahlkampf wieder ins Internet gestellt. Will sie damit zur Aufklärung beitragen?

Gregor Gysi ist aus Berlin ins Phoenix-Studio zugeschaltet, die Reichstagskuppel im Rücken und lächelt wie auf einer staatsmännischen Postkarte. Das Jahr der Aufnahme ist 2018, die Locken sind noch nicht so silber wie heute, aber der Politprofi kennt solche Vorhaltungen bereits seit Jahrzehnten. Routiniert und unaufgeregt beginnt er seine Verteidigung des berühmten deutschen Philosophen, korrigiert besonnen falsche Zitate, erklärt schlitzohrig grinsend die Unterschiede zwischen Original und diktatorischer Übernahme. Das sichtliche Dilemma: In dem Versuch, Marx von ideologischer Verfremdung zu befreien, zeigt sich bei Gysi selbst im Ansatz eine sozialistische Leerstelle.

Gregor Gysi vor einer Marx-Büste am Rednerpult ID 53027373 © Biserko | Dreamstime.com

Gysi hat natürlich einen Punkt: Unser Marx Grabstein ist schief, er ist zu Boden gekippt. Viele Deutsche glauben keine einzige seiner Ideen zu kennen, außer aus dem Mund seiner Feinde. Für’s Canceln gibt es, wenn man ihn studiert wenig Anlass: Marx war selbst pragmatischer als angenommen wird, er war emanzipatorischer Demokrat, entschiedener Streiter für eine deutsche Republik, bissiger Journalist, legendär anti-autoritär, unvollendet, unverstanden, ungelesen.

Wenn auch den journalistischen Werkzeugen des Erkenntnisgewinns geschuldet, überbieten sich Gysi und Krons gemeinsam in der Verschränkung von Frage und Antwort zu diesem allgemeinen Komplott. Das geschieht bereits in der Beerdigung zu Beginn: „Marx ist tot…“. Aus dieser Formel vom doppelten Tod spricht ein Wissenschaftsverständnis, dass nicht These, Antithese und Synthese, sondern einzig These kennt - aber ist es die Aufgabe von Wissenschaft Bibeln zu schreiben?

Die Antwort lautet natürlich ja.

„Derjenige, der ein neues Paradigma in einem frühen Stadium annimmt, muß das oft entgegen den durch Problemlösungen gelieferten Beweisen tun. Das heißt, er muß den Glauben haben, daß das neue Paradigma mit den vielen großen Problemen, mit denen es konfrontiert ist, fertig werden kann, wobei er nur weiß, daß das alte Paradigma bei einigen versagt hat. Eine Entscheidung dieser Art kann nur aufgrund eines Glaubens getroffen werden. “

Schrieb Thomas S. Kuhn, einer der bedeutendsten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts.

Marx musste - folgen wir Kuhn - sein eigenes Paradigma zur Bibel machen, weil er bahnbrechende Theorien entwickelte. Seine Klassentheorie war beispielsweise dazu in der Lage, die Sozialwissenschaften zu revolutionieren - mit der Entfremdungstheorie wollte er aufzeigen, wie Arbeiter von ihrer Arbeit, ihren Produkten und letztlich von sich selbst entfremdet werden. Dabei verstieß er gegen die 'Glaubensprinzipien' seiner Zeit, wie die individualistische klassische Ökonomie, die idealistische Geschichtsphilosophie oder die ahistorische Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene, die er mit seinen aus Feuerbach, Hegel und Smith synthetisierten oder selbst aufgestellten Theorien und Thesen falsifizieren wollte.

"Zum Leben aber gehört vor Allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere."

Lautet ein geschickter Satz von Marx in Die deutsche Ideologie. Er formulierte damit einen in dieser Form radikalen Blick auf die menschliche Existenz, die Descartes mit der These "Cogito ergo sum" - "Ich denke, also bin ich" auf den Punkt gebracht hat. Marx leitet die Existenz nicht aus dem Denken, sondern "vor allem" aus den Grundbedürfnissen des Menschen ab und setzt die gemeinsame Befriedigung an den Beginn der Geschichte. Ein viel bodenständigerer Standpunkt und besonders geeignet für die Zeit des Manchester Kapitalismus und der industriellen Revolution, in der sich Publizisten in ihren Sozialstudien überboten und in der französische Forscher feststellten, dass der Grund, weshalb in vielen Arbeiterwohnungen nur eine Pritsche zum Schlafen und keine Schränke existierten, der war, dass diese Arbeiter keine Besitztümer hatten.

Heute deuten verschiedene Forschungsergebnisse darauf hin, wie wichtig der Blick auf die materialistischen Faktoren, als Teil verschiedener Ansätze ist. Denn viele Jahre nach Marx haben einige Wissenschaftsdisziplinen seine Thesen in gewisser Weise gestützt. So konnten die Neurowissenschaften das Zusammenspiel von physischen Faktoren und mentalen Prozessen belegen. Die Ernährung eines Menschen verändert tatsächlich seine Gehirnfunktion und er beginnt, sich andere Gedanken machen zu können. Materielle Unsicherheit erzeugt sogar Stress, der die Denkfunktion beeinträchtigt. Finanzielle Sorgen scheinen den IQ nach unten drücken zu können. Materielle Verschlechterungen haben auch das Potential, unser vermeintlich idealistisches politisches System zu zerstören.

Seine eigene Theorie musste Marx aber zuvor ausbauen, denn möglicherweise war sie zu Beginn noch unstimmig, ihre empirische Basis musste vergrößert und die Theorie sich an der Wirklichkeit bewähren. Auf diese Weise waren seine Überlegungen für ihn selbst als interdisziplinären Wissenschaftler geradezu Bibeln, weil er darin aus eigenem Antrieb neue Theorien entwickelte. Unser Blick darauf, über zweihundert Jahre später, müsste eigentlich ein anderer sein, denn viele seiner Kernthesen, wie die materialistische Grundannahme, konnten geprüft, kritisiert oder präzisiert werden.

Wir können nun beim Journalisten, der diese 'Aussage mit Fragezeichen' gestellt hat, auf den Versuch, ein interessantes Bild von Wissenschaft zu vermitteln warten. Oder eher bei Gregor Gysi. Beim Warten wird klar: Der Fehler liegt nicht in den inhaltlichen Debatten zum Gedenken an Marx als Journalist, Sozialtheoretiker und Ökonom. Viel simpler: Kein Rezipient, gleich Individuum oder Staat, muss aus einer Schrift ein "Geländer aus Gedanken" abfragen, denn der Leser findet in der eigenständig kritischen Auseinandersetzung eine weit höhere Aufgabe. Die Erwartung absoluter Wahrheit würde jeden Autoren, gleich wen, darunter begraben. Jeder wäre dann auf die Weise tot wie Marx.

Der Grabstein von Karl Marx in London. Wie umgehen mit Wissen aus einer vergangenen Zeit?

An einer anderen Leerstelle tappt Gysi näher in Richtung seiner Wähler, die Marx nicht verstehen - oder nicht verstehen wollen: „Marx hat ja zunächst analysiert den Kapitalismus [...] deshalb wird er ja wieder gelesen deshalb ist er wieder modern“. Das ist sicher richtig, unterschlagen wird aber dessen realpolitisch pragmatische und theoretisch fundamentale Staatskritik:

"Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat 'frei' zu machen. Im Deutschen Reich ist der 'Staat' fast so 'frei' als in Rußland. Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln“
Die Kritik des Gothaer Programs, 1875 verfasst und 1891 posthum von Friedrich Engels veröffentlicht, wurde auch in der DDR in hohen Auflagen gedruckt - man gab sich allerdings große Mühe die aufgestellten Thesen und Warnungen zu ignorieren oder falsch zu verstehen (die Abbildung stammt nicht aus einem DDR-Druck)

so Marx - hier zu Polemik bereit - in seiner Kritik des Programms der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Er giftet gegen einen entfesselten Staat, anstelle eines entfesselten Arbeiters. Ab hier wäre es mit dem Ostblock-Sozialismus sowieso aus und vorbei - denn er bestand aus einem freien Staat über der unfreien Gesellschaft. Weitere Mühen müsste Gysi sich nun eigentlich nicht mehr machen.

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Art 20 (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. 

Marx Forderung, den Staat "aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln" findet in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland eine Art Widerhall. Wichtig ist aber festzuhalten, dass dieses Staatsverständnis nicht einer direkten ideengeschichtlichen Linie zu Karl Marx entspringt und es in der demokratietheoretischen Tradition viele Stimmen wie Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) gab, die den Staat als ein der Gesellschaft 'dienendes' oder 'untergeordnetes' Organ angesehen haben.

Weil dieses wichtige Missverständnis nicht ausgeräumt wird, geht es nun lustig zu: “Aber ich verstehe immer noch nicht warum es keinen Staat gegeben hat, der, wenn er sich auf Karl Marx berufen hat dann auch ein tatsächlichen Sozialismus in seinem Sinne umgesetzt hat“ hakt Krons nach.

An dieser bemerkenswerten Stelle des Interviews verschmelzen drei Prinzipien. Zuerst, so scheint es, das in Chomsky und Hermans 'Manufacturing Consent' ausgearbeitete Propagandamodell mit seinem Kernfilter des Antikommunismus als ideologische Diskurskontrolle westlicher Medien. Zweitens der dennoch legitime journalistische Erkenntnisgewinn durch die haarsträubende Frage und schließlich Gysi als für unser Erkenntnisinteresse tief gespaltene Figur.

Denn darauf folgt von Gysi eine Zählung der durch Autoritarismus verhinderten Unternehmungen eines demokratischen Sozialismus: Pariser Kommune, der Prager Frühling - „unter Dubček“ - und das Chile vor Pinochet also „der Versuch von Präsident Allende". Davon behielten aber zwei von drei der genannten Beispiele ein zentralistisches Prinzip bei.

Gysis Argumentation verfolgt aus zwei Gründen einen ungünstigen Ansatz: Zum einen erscheint es als ein sinnvollerer Gesichtspunkt zur Beurteilung des Realsozialismus die gesellschaftlichen Strukturen, Produktions-und Lebensbedingungen, vor allem die Russlands bis ins 20. Jahrhundert in den Blick zu nehmen. Zum anderen ein Gebot, sich mit konkreten Äußerungen Marx zu beschäftigen. Wir kennen die wertschätzenden Worte von Marx zur Pariser Kommune aus „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, die hier etwas zur Klärung beisteuern können:

"Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse."

Dieses fundamental andere Prinzip der Delegation „von unten nach oben“ unterteilt die politische Vision von Marx von realsozialistischen Unternehmungen - auch den demokratisch Ambitionierten. In der Vermengung aller demokratischer Sozialismen beginnt Gysi den geschichtlich bruchstückhaft formulierten Sozialismus mit der Geschichte des Realsozialismus zu verwechseln. So fällt es auch nicht weiter ins Gewicht, dass ein gegenwärtiges Beispiel für ein emanzipatorisches Projekt - die aktuell von türkischen Drohnen attackierten autonomen Gebiete Nord-und Ostsyriens, einfach unterschlagen wird.

Um sich der Frage des Interviewers zu stellen, kann man sich z.B. mit den gesellschaftlichen Strukturen in Russland beschäftigen oder untersuchen, welche sozialen und politischen Organisationsformen Karl Marx tatsächlich unterstützt hat. "Der Bürgerkrieg in Frankreich" ist das Pamphlet von Marx, dass sich mit einem sozialistischen Projekt seiner Zeit beschäftigte - der Pariser Kommune (18. März 1871 bis 28. Mai 1871). Auch die Lebensbedingungen im 19. Jahrhundert (industrielle Revolution) sollten zur Kontextualisierung von Marx Schriften Beachtung finden.

In Marx konkreten politischen Empfehlungen findet sich eine Menge Augenmaß, aber kein Sozialismus großer Bandbreite. Er lehnte sowohl den Vulgäranarchismus, den zu destruktiven Sprung, als auch die Fetischisierung des Staates, also den Funktionärsozialismus, und sicher auch modernen Techno-Libertarismus, also die Axt am Bestehenden, wahrscheinlich äußerst radikal ab.

Im Vorwort zur Kritik des Gothaer Programms von Karl Marx lässt Friedrich Engels am Londoner Schreibtisch tief blicken, er hätte allzu üble Beschimpfungen - „scharfe Ausdrücke und Urteile“ - in gewisse Richtungen vor der posthumen Veröffentlichung aus dem Werk entfernt. In Marx-Texten sucht und sucht man nach einem Drehbuch für ein zentralstaatliches Drama, und findet im Gegenteil die Präferenz zur freien Assoziation von Produzenten. Zwar forderte er mit Engels und der kommunistischen Partei im „kommunistischen Manifest“ eine Art Verstaatlichung von Kredit- und Transportwesen, doch leben wir heute in einer Welt, in der insbesondere diese Sektoren - wenn auch hybrid - bereits in öffentlicher Hand liegen. Unsere eng mit Marx synthetisierte Welt bietet uns außerdem das Verbot von Kinderarbeit, Arbeitszeitbegrenzung, kostenlose Grundbildung, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Republik, you name it.

Selten wurde ein Autor, der derart fortschrittlich schrieb und sich sogar des elenden Kolonialismus seiner Zeit mehr und mehr entsagte, in eine so verrufene Ecke gestellt.

Alle hassen Marx, allen voran die internationale rechte Bewegung. 2023 kündigte Trump an, im Falle einer Wiederwahl allen "Kommunisten und Marxisten" die Einreise in die USA verweigern zu wollen. Zusätzlich erwähnte er vage ein "neues Gesetz" für in den USA aufgewachsene "Kommunisten" und "Marxisten", ohne Details zu nennen. Wir wissen nur so viel über seine Begriffsdefinition, als dass er sie auch auf seine unterlegene Konkurrentin Harris anwendet.

Zuletzt schlug der Fall von Lisa Pöttinger, einer Bewerberin auf ein Referendariat als Lehrerin in Bayern hohe Wellen, nach deren Aussage ihr nicht nur die Mitgliedschaft in einer angeblich linksextremistischen Vereinigung vorgeworfen wurde, sondern auch die Verwendung marxistischer Begriffe. Der Verfassungsschutz habe mitteilen lassen, dass der von ihr verwendete Begriff "Profitmaximierung" aus dem "Kommunismus" stammen würde und "Gewinnstreben in der Wirtschaft" abwerten würde. Das würde zeigen - sofern das Zitat tatsächlich von der Behörde stammt - was nicht unabhängig überprüft werden konnte - dass diese eine falsche Äquivalenz annahm, die wir aus der interpretativen Tradition von Marx gewohnt sind.

In der hier formulierten Analogie ist unabhängig von den Ansichten der Lehrerin herausgestellt, dass das Argument der Schüler nur unwahre Belege enthält. Zum einen stammt der Begriff "leise" nicht nur aus der "antiakustischen Ideologie", sondern vor allem aus der Umgangssprache - die Deutung des Schülers ist so selektiv, dass sie falsch ist. Zum anderen besteht zwischen dem Aufruf, sich leise zu verhalten und dem Konzept der "menschlichen Verständigung" überhaupt keine logisch nachvollziehbare Verbindung, da Menschen sich auch leise verständigen können. So wird die "Abwertung" nicht bewiesen. Drittens sind die Begriffe "leise" und "antiakustische Ideologie" nicht angemessen definiert, sodass z.B. vage bleibt, ob erwartet wird, dass das ganze Leben oder nur eine Schulstunde "leise" ablaufen soll oder um welche Strömung "antiakustischer Ideologie" es sich genau handelt. Die Schlussfolgerung, die Lehrerin habe eine "phonetophobe Grundeinstellung" können die Schüler so nicht beweisen.

Eine Analogie des ungültigen Arguments, mit dem Lisa Pöttinger ein Ministerium zitiert haben will. Eine Lehrerin fördert ihre Schüler dazu auf "leise" zu sein. Einer antwortet, dass der Begriff "leise" aus der "antiakustischen Ideologie" stammen würden und das Konzept von "menschlicher Verständigung" ablehnen würde. Die Klasse schlussfolgert, die Lehrerin habe eine "phonetophobe Grundeinstellung".

Der allgemeine Erregungszustand wurde mir dann in Gänze sichtbar bei einem Treffen mit einem liberalen Intellektuellen. Wir diskutierten alles unter der Sonne, als wir auch auf Marx zu sprechen kamen. Einmal den Namen gehört, verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen: Marx habe gefordert, die bürgerliche Klasse zu vernichten. Das sei ex-tre-mis-tisch!

Ich versuchte als Erstes die Wogen wie ein besorgter Psychotherapeut zu glätten und war mir gleichzeitig unsicher, ob Marx das Zitierte tatsächlich geschrieben hatte. Ich sagte ihm, ich hätte von Marx selbst nicht viel gelesen, nicht um unverdächtig zu wirken, denn ich wollte dabei noch ausführen: "Das Kapital, Marx. Der Unvollendete von Georg Neffe und einige Artikel", wurde aber abrupt unterbrochen: "Ich habe auch nichts von ihm gelesen" sagte mein liberaler Freund sichtlich erleichtert.

Zuhause angekommen, versuchte ich die problematische Stelle von Marx in verschiedenen Schriften, wie dem kommunistischen Manifest zu identifizieren, fand aber immer nur Marx's Absicht die Klassengesellschaft zu "überwinden" nicht zu "vernichten", wobei er die Bourgeoisie sogar zu den in der Auseinandersetzung mit dem Feudalismus revolutionären Klassen zählte. Zu ihr zählten beispielsweise Fabrikbesitzer, die Kapital vermehrten. Die heutige Unschärfe von "Bürgertum/Bourgeoisie" mit "Bürger" im allgemeinen Sinne entspricht nicht Marx' Definition des Begriffs. Er zählte fast alle, die von Lohnarbeit leben und keine Produktionsmittel besitzen zu "Arbeitern". Am Ziel seiner Prognose stand die Aufhebung der Klassengesellschaft und das anstelle eines freiheitlichen Zustands: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Bezogen auf die Aufhebung der Klassengesellschaft schrieb er: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“

Bemerkenswert ist hier die Analyse des Nebensatzes: Wenn die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist, dann ist das handelnde Subjekt im Nebensatz das Individuum, nicht die Allgemeinheit. Die freie Entwicklung des Individuum geschieht aber nach Marx bereits im Rahmen der "Assoziation", den neuen Verhältnissen, die die Klassengesellschaft abgelöst haben sollen. Als Materialist musste er behaupten, dass formelle Freiheiten kaum jemandem nützen. Er behauptete auch, dass sich die individuelle Freiheit und die der Gesellschaft bedingen. Assoziative Gesellschaftsformen mit geteilter Ressourcennutzung anstelle umfassenden Privateigentums haben in der Menschheitsgeschichte wiederholt existiert und deuten darauf hin, dass gemeinschaftliche Lebensweisen keineswegs zwangsläufig in autoritäre Herrschaft oder Elend münden müssen, sofern es robuste Prozesse zur Machtbegrenzung gibt. Wir überspringen an dieser Stelle die Debatte über die Definition des Begriffs "Diktatur des Proletariats", um eine thematische Ausuferung zu begrenzen.

Die Fallstricke des Realsozialismus, hier anhand eines Auszugs aus der Verfassung der Ukrainischen SSR von 1937 illustriert: "Abschnitt I Soziale Organisation Artikel 12. Die Arbeit in der Ukrainischen SSR ist eine Pflicht und Ehrensache für jeden arbeitsfähigen Bürger nach dem Grundsatz: "Wer nicht arbeitet, existiert nicht." Die Ukrainische SSR setzt das Prinzip des Sozialismus um: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Arbeit (sic)."

Der Reflex gegen Marx - besonders der aus der internationalen Rechten - ist kein Lüftchen, sondern ein Sturm. Um ihm zu begegnen sollte man die Frage stellen, ob der Reflex sich nicht in Wahrheit stärker gegen die Vielen als gegen einen kleinen Haufen Marxisten richtet. Der individuelle Freiheitskämpfer Marx, der an keinem Tag in seinem Leben in einer modernen Demokratie lebte und sich intuitiv und theoretisch deren gewünschte Form erst erschließen musste, wäre wahrscheinlich stolz auf erlangten politischen Fortschritt - er würde nichts davon abwickeln.

Wahrscheinlich würde er aber auch heute noch vom Standpunkt der ‚politischen Mitte‘ ausscheren und unsere Gesellschaft nicht als Endpunkt eines Lernwegs sehen - und den ihr zugrundeliegenden Staat vielleicht auch etwas mechanistisch als Arena der Transformation. Verglichen mit der Zeit vor 200 Jahren hat sich auch die Form der sozialen Klassen gewandelt - weshalb man nicht alle Sozialtheorien von damals schablonenhaft übertragen kann.

Das soll seine Theorie nicht entwerten, sie müsste allerdings um viele Punkte angepasst und aktualisiert werden. Die oberen 1-10% könnten auch heute noch als Vermögenselite beschrieben werden, sind aber nicht mehr primär an Industriekapital gebunden, sondern operieren z.B. im Finanz-oder Technologiesektor. Der größte Anteil der Gesellschaft ist in fragmentierte Klassen aufgeteilt. Die Klasse der Industriearbeiter hat von ihnen aber nicht unbedingt das höchste revolutionäre Potential. Die aktuelle Forschung nimmt sich seit geraumer Zeit auch der Peripherie - also den unterschiedlichen Lebensbedingungen in separaten Zonen kapitalistischer Produktion -, dem Feminismus und anderen Aktualisierungen und Lesarten an.

Wie würde Marx die Konsequenzen seiner Theorie über die Klassen im Kapitalismus heute bewerten? Vermutlich würde er seine Revolutionstheorie aus Arbeiter-und bürgerlicher Klasse herausgefordert sehen und an die veränderten Umstände anpassen. Aber auch wenn wir alle unzähligen Marx-Texte in ein Sprachmodell kopieren würden, wäre es unmöglich seine genaue Haltung zu aktuellen Fragen mit Gewissheit zu bestimmen. Marx, würde er sich noch heute durch die Zeit bewegen, wäre auch ein anderer, weil ihn die Zeit kaum verschont hätte.

Anstatt in spekulativen Deutungen zu verharren, kann man es auch so halten: Ohne Vorschriften und "gedankliche Geländer" alle möglichen Schriften zu interpretieren, bedeutet die Befähigung, einen eigenen Pfad demokratisch-emanzipatorischer Entwicklung einzuschlagen. Dies wird nützlich im Jetzt, wo jedem zukünftigen Tag eine schlechtere Natur blüht, als dem bereits Vergangenen. Das Risiko ist jeder Organisation ohnehin eingeschrieben - es tritt bereits zu Tage. Dass die Linke ausgerechnet jetzt aus Marx einen schlechten Marxisten machen will, lässt tief blicken. Sind ihre neuen Wähler empfänglich für die Freiheit?